Freitag, 26. Februar 2016

7. Gemeindepfarrer/in – die „eierlegende Wollmilchsau“? (1)

„Bin ich Jesus?“

Schon lange habe ich diese Redensart nicht mehr gehört. Sie wurde früher dann gebraucht, wenn man ausdrücken wollte, dass man nicht alles wissen und nicht alles tun könne. Allerdings habe ich sie niemals von einem Pfarrer gehört. Die „eierlegende Wollmilchsau“ gibt es nicht. Ich habe erst spät erfahren, dass es sich um eine bayrische Erfindung handelt, um auszudrücken, dass der Mensch wohl am liebsten nur ein Haustier hätte, das alle seine Grundbedürfnisse nach Nahrung und Kleidung erfüllen könnte. Ich habe diesen rätselhaften Begriff zum ersten Male von Pfarrer Fritsche gehört, als es in einem Gespräch darum ging, welchen Anforderungen ein Pfarrer gerecht werden muss.

1. Unsere Erwartungen

Versuchen wir doch einmal, unsere eigenen Anforderungen an unseren Gemeindepfarrer zusammenzutragen. Zunächst soll er da sein, persönlich anwesend sein. Dann erwarten wir, dass er bei Bedarf da ist. Bedarf haben wir allgemein bei Taufe, Konfirmation, Heirat (Trauung), Tod (Beerdigung). Für manche sind das eine Formsache. Zur Sache geht es bei Schwerkranken, Sterbenden, Hinterbliebenen und ganz allgemein um Notleidende. Da geht es z. B. um einen Obdachlosen, der Geld für seine nächste Mahlzeit haben möchte, um einen Alleinstehenden, der in seelischer Not keinen Weg zu anderen Menschen findet, es geht auch um jene, die sich in Glaubenszweifeln befinden und keinen Weg aus diesen Zweifeln finden. Für sie alle soll der Pfarrer Hilfe, Stütze und Wegweiser sein. Deshalb ist er in gewisser Weise etwas mehr als ein Arzt.

2. Anforderungen an das Pfarramt

Haben Sie schon einmal nachgedacht darüber, was ein solcher Pfarrer alles wissen und können muss, wenn er allein diese Anforderungen erfüllen soll? Viele von ihnen haben ein Zusatzstudium in Psychologie oder sogar eine Ausbildung als Psychotherapeut hinter sich. Ein Pfarrer ist in vielerlei Hinsicht darauf angewiesen, dass er wesentliche Teile seines Aufgabenfeldes erst in der Praxis kennen lernt und erst dann persönliche Erfahrungen sammeln kann.

2.1 Theologe und Psychologe

Auch ein Gemeindepfarrer ist in der Regel zuerst einmal Theologe. Das Wort Theologie stammt aus dem Griechischen und bedeutet soviel wie „Lehre von Gott“ oder im heutigen Sinne die „wissenschaftliche Lehre vom Glaubensinhalt einer Religion“, in unserem Falle der christlichen. Was gehört dazu? Zunächst die umfassende Kenntnis des Inhalts der Bibel und ihres Zustandekommens, die Geschichte des Christentums und der evangelischen Kirche. Dazu gehört die Kenntnis alter Sprachen, etwas Hebräisch, Altgriechisch und Latein. Ein Pfarrer muss sich in den verschiedenen Richtungen seiner Wissenschaft auskennen. Welche Auffassung vertrat Rudolf Bultmann, welche Karl Barth und was sind heute die aktuellen Fragen, die wissenschaftlich erörtert werden. Wie sieht es in anderen Konfessionen aus, z. B. was hat der Professor Joseph Ratzinger, der Vorsitzende der deutschen Bischofskonferenz oder gar der Papst gesagt. Den wesentlichen Kern dieser Aussagen sollte er kennen und einordnen, damit zugleich auch bewerten können. Denn er wird gefragt, von interessierten Gemeindemitgliedern und von Außenstehenden. Hier vertritt er seine Kirche vor Ort.

2.2 Bibelauslegung

Ich muss noch etwas zur Bibelauslegung sagen, die ihren Höhepunkt in der sonntäglichen Predigt findet. Ein Pfarrer muss sagen können, was das, was in der Bibel steht, für uns Menschen heute bedeutet. Er muss also die Heilige Schrift auslegen können (gr. Exegese). Er muss die Kunst der Auslegung (gr. Hermeneutik) erlernt haben. Ein wichtiger Teil dieser Kunst ist die Auslegung eines Bibelabschnitts in der Reihenfolge der Sätze (gr. Homilie, „Zusammensein, Gespräch“). Sie sehen, es geht nicht wie in der Schule um einen Aufsatz, wie wir ihn alle einmal schreiben mussten. Es geht darum, eine besondere Kunst zu kennen und zu erlernen. Wie bei allen Künsten, liegt auch diese dem einen mehr und dem anderen weniger. Aber für seinen Beruf braucht der Pfarrer ein bestimmtes Maß der Beherrschung auch dieser Kunst.

2.3 Kirchenmusik

Wir dürfen nicht vergessen, dass der Pfarrer auch die wesentlichen Grundzüge der Kirchenmusik in Vergangenheit und Gegenwart kennen muss. Die großen Meister wie Telemann, Schütz, Johann Sebastian Bach, Händel, Mozart, Beethoven müssen ihm bekannt und in Teilen vertraut sein wie die Liederdichter und –komponisten wie Paul Gerhardt, Martin Luther, Gerhard Tersteegen bis hin zu Jochen Klepper, Dietrich Bonhoeffer und etwa Kurt Romme, Jürgen Henkys und Oskar Gottlieb Blarr.

2.4 Gemeindepädagogik

Ein Gemeindepfarrer hat seinen Beruf verfehlt, wenn er nicht einige Grundzüge der Pädagogik beherrscht. Unter Pädagogik versteht man die Theorie und Praxis der Erziehung und Bildung, kurz die Erziehungswissenschaft. Das wird deutlich an der Aufgabe des Pfarrers, Konfirmandenunterricht oder heute Kirchlichen Unterricht zu erteilen. Aber auch dann, wenn er Kindergottesdienste, Bibelabende hält oder etwa Mitarbeiter in Kindergarten und Jugendarbeit unterrichtet, ist sein pädagogisches Geschick gefragt.

2.5 Einfühlungsvermögen und Taktgefühl
Ein Gemeindepfarrer „muss es mit allen können“, wie man landläufig sagt. Was meint man damit? Im allgemeinen Sprachgebrauch versteht man darunter, dass er sich z. B. mit einem ungelernten Arbeiter oder einem arbeitslosen Jugendlichen ebenso gut unterhalten und ernsthaft verständigen kann wie mit einem etablierten Handwerker, einem Rechtsanwalt oder Arzt. Wir in Leverkusen können sagen, er muss mit einem Laboranten bei BAYER wie mit einem leitenden Angestellten oder gar einem Vorstandsmitglied oder auch einem Mitglied des Aufsichtsrates sprechen können, wenn diese Personen in seiner Gemeinde leben. Nehmen wir hinzu die Menschen verschiedenen Alters, die Jungen, die Alten, die Familien und ebenso die Gesunden und Starken auf der einen und die Kranken sowie die Schwachen auf der anderen Seite hinzu. Es geht um Gemeinschaftsmenschen ebenso wie um die Einzelgänger, um die Fröhlichen und Lustigen wie um die Traurigen und Bedrückten – für alle soll der Pfarrer verständnisvoller Partner sein! Sie merken, Sie merken, hier kommt Psychologie, Pädagogik – und auch viel Einfühlungsvermögen und Taktgefühl zusammen.

2.6 Dienstgemeinschaft und kirchliche Struktur

Meinen Sie, das sei genug? – Sie mögen recht haben. Eigentlich reicht das alles. Aber wir täuschen uns! Wir haben ganz unterschlagen, dass der Pfarrer Teil der Kirchenorganisation ist., Hier muss ich Sie zunächst auf die ersten Teile unserer Aufsatzsammlung verweisen (Wer ist das Oberhaupt unserer Kirche?; Die Gemeinde – wer ist das?). Der Pfarrer steht zunächst in der Dienstgemeinschaft wie alle Christen. Er trägt – allerdings an herausgehobener Stelle – sein Teil dazu bei, die Liebe Gottes in diese Welt hineinzutragen, sie zu bezeugen und uns alle zu gleichem Tun zu bewegen.

Dann aber ist er auch und zugleich Mitglied der irdisch-menschlichen Organisation in dieser Welt handelnder Kirchen. Unsere Johanneskirchengmeinde ist eine Gemeinde mit nur einer Pfarrstelle. Von einer solchen Situation gehe ich jetzt aus. Wenn mehrere Pfarrer in einer Gemeinde tätig sind, können sie die Anforderungen eher untereinander aufteilen. Bei unserer Gemeinde geht das nicht. Der Pfarrer muss sich der ganzen Bandbreite stellen. Zunächst ist er in der Regel Dienstvorgesetzter aller anderen kirchlichen Mitarbeiter in der Gemeinde. Er ist mitverantwortlich – man kann sagen vorrangig verantwortlich – für die Grundstücke und Gebäude, für das Inventar der Gemeinde. Dann muss er ein Gefühl für das Wesen der Verwaltung in der Kirche entwickeln. Oft fällt es schwer, sich daran zu gewöhnen, dass jede Einnahme und Ausgabe schriftlich nachgewiesen und belegt werden muss, dass alle Finanzbewegungen der Gemeinde nur durch eine Kasse erfolgen können, dass die Kirchenbücher in einer bestimmten Ordnung zu führen sind und der Haushalt der Gemeinde von der Verwaltung in einer gewissen Systematik aufgebaut werden und Regeln in der Bewirtschaftung der Haushaltsmittel eingehalten werden müssen. Auch der Umgang mit dem Siegel will gelernt sein, um missbräuchliche Verwendung zu verhindern. Zur Verwaltung gehört auch die Organisation der Gemeinde. Die einzelnen Gruppen in der Gemeinde dürfen nicht getrennt nebeneinander agieren, sondern müssen voneinander wissen, unter Umständen nach Möglichkeit sogar an einem gemeinsamen Projekt arbeiten.

Ein Gemeindepfarrer muss die Entwicklung der Gemeinde insgesamt im Blick behalten und diese Gesamtentwicklung verantwortlich zu steuern versuchen.

2.7 Seelsorge

Nach biblischem Verständnis meint Seele soviel wie Leben. Seelsorge ist dann Lebenshilfe, die das Leben eines Menschen in allen seinen Beziehungen heilen und fördern will. Das zielt besonders auf jenes Verhältnis, das seinem Leben Sinn gibt. Für uns Christen ist das unser Verhältnis zu Gott. Seelsorge vollzieht sich also in einem vielschichtigen Beziehungsfeld und sucht dem ganzen Menschen zu dienen.

Seelsorge geschieht dann durch

- Rat und Hilfe aus Einsamkeit, Sinnlosigkeit, Angst und Schuld; in mitmenschlichen Konflikten; vor schwerwiegenden Entscheidungen
- Zuwendung, Zuhören und Zuspruch eines Menschen in einer Atmosphäre des Vertrauens
- Hilfe zu neuer Gemeinschaft, zu vertiefter Sinnerfahrung und zur Überwindung von Einsamkeit und Schul soweit das möglich ist.

Es gibt die Vorstellung, dass alle kirchlichen Betätigungen sich durch ihr seelsorgerliches Ziel rechtfertigen und darin begründen müssen. Die Seelsorge ist damit die eigentliche und einzige Aufgabe der Kirche. Wenn wir Seelsorge als Frucht der dreifachen Liebe zu Gott, zu unseren Mitmenschen und zu unseren Feinden verstehen, dann können wir dieser Auffassung wohl zustimmen.

Seelsorge kann als Einzelfallseelsorge und als Gruppenseelsorge ausgeübt und verstanden werden.

Seelsorge ist die wichtigste Amtspflicht des Pfarrers. Deshalb habe ich sie als letzte genannt. In ihr läuft alles zusammen, was den Pfarrerberuf ausmacht: Ein Gespräch – über das Wetter, den häuslichen Alltag, den Beruf oder über den Sinn des Lebens, Lebensziele, über Gott und den Lauf der Welt, das Ausfüllen eines unverständlichen oder schwierigen Vordrucks, das Lesen eines Psalms oder einer anderen Bibelstelle, das gemeinsame Singen eines Kirchenliedes, das gemeinsame Sprechen des Vaterunsers, das gemeinsame Gebet – dies alles sind Formen der Seelsorge, wenn all diese Tätigkeiten von der Hinwendung zum nächsten getragne werden und von Gottes Liebe zeugen.

An einem Beispiel möchte ich eine weitere Möglichkeit zeigen, wie Seelsorge geschehen kann. Es war wohl unter dem Eindruck der Flugzeugattentate auf das World-Trade-Center in New York am 11.09.2001, dass ich vorschlug, unsere Gemeinde möchte bei derartig einschneidenden Katastrophen kurzfristig Gottesdienste anbieten und bedrängten Gemeindemitgliedern, besonders Alleinstehenden und Älteren, die Möglichkeit bieten, sich unter Gottes Wort zu versammeln. Für mich war das eine eigene Form der Seelsorge – ich würde sie die gemeindliche Seelsorge nennen, die sich an die Kirchengemeinde wendet. Mein Vorschlag wurde abgelehnt, weil in solchen Fällen die Sachlage meist ungeklärt ist und wenig auf Gemeindeebene zur Aufklärung der Tatsachen beigetragen werden kann. Durch derartige Ereignisse – ich denke auch an die Entführung und Ermordung von Martin _Schleyer, den Ausbruch der Irak-Kriege, die erschreckenden Anschläge aus rassistischen Gründen u. a. m. Hervorgerufene Ängste lassen sich auf diese Weise nicht auflösen. _Außerdem sei es organisatorisch schwer zu erreichen, kurzfristig die tragenden Persönlichkeiten für ein solches Vorhaben zu gewinnen. Ich habe mein Vorhaben nicht weiter verfolgt. Aber im Sinne der Seelsorge halte ich ein solches Projekt nach wie vor für wichtig. Es braucht ja kein Gottesdienst zu sein. Eine Gebetsandacht mit Schriftlesung, Gesang und Gebet – vielleicht mit Nachgespräch im Anschluss – könnte schon viel bewirken. Hinwendung zum Mitmenschen und Gottes Liebe sollten unsere Beweggründe sein – alles andere mag man nachher überlegen. In anderen Gemeinden war ein solches Angebot möglich.

„Ist das nun alles?“ werden Sie fragen. Wir haben unsere Erwartungen an den Gemeindepfarrer zusammengetragen und die Anforderungen an das Amt des Pfarrers in einer kurzen Zusammenfassung zur Kenntnis genommen. Das ist erst der Anfang.

2.8 Pfarrer und Pastor

Bevor wir zur Sache kommen, will ich die Begriffe klären. Beide stammen aus dem Lateinischen. „Pfarrer“ leitet sich ab von „pater“ (= Vater) und wurde im Altertum oft in der Zusammensetzung von „pater familiae“ (= „Vater der Familie“) im Sinne auch von „Oberhaupt des Geschlechts“ gebraucht. Im kirchlichen Zusammenhang verstand man den Pfarrer als Vater seiner Gemeinde und die Gemeindemitglieder als seine Gemeindekinder. Von diesen Sachverhalt leitet sich auch das Eigenschaftswort „patriarchalisch“ ab. Der Pfarrer verhält sich wie ein Vater – im guten wie auch manches Mal im schlechten Sinne.

„Pastor“ leitet sich ab von „pastor“ (= Hirt). Hier ist das Bild vom Hirten gemeint, der „sein Leben hingibt für seine Schafe“ (Joh. 10,11).

In der evangelischen Kirche werden die ausgebildeten Theologen, die ein Pfarramt innehaben Pfarrer genannt. Diejenigen aber, die nach ihrer Ausbildung ohne Pfarramt sind, Pastoren. Das war nicht immer so. In der Vergangenheit war der Sprachgebrauch wohl oft fließend.

Der ehemalige Pfarrer unserer katholischen Nachbargemeinde bezeichnete sich gern als „Pastor“. Ich nehme an, dass er seinen Beruf ausgesprochen als Hirtenamt auffasste.

2.9 Keine „eierlegende Wollmilchsau“!

Eines ist jetzt klar: Ein Pfarrer weiß nicht alles und er kann nicht alles. Er ist keine eierlegende Wollmilchsau.

Reicht Ihnen, was Sie nun über den Pfarrer wissen? Ich könnte mir vorstellen, dass es Ihnen reicht. Aber das genügt nicht. Jetzt geht es erst los.

Was sagt die Bibel, was die Kirche zum Pfarrberuf und seiner Aufgabe? Welche Erfahrungen macht ein Presbyterium mit “seinem“ Pfarrer, welche die Gemeindemitglieder? – Sie sehen, es stehen noch viele Fragen an. Diese erste umfassende – aber nicht erschöpfende – Darstellung war deshalb notwendig, weil die Ansichten über das, was ein Pfarrer ist und was er tun muss, sehr unterschiedlich sind. Wir machen uns oft nicht klar, wie weit die Anforderungen an den Pfarrer wirklich gehen und berücksichtigen zu wenig, dass der Pfarrer ein Mensch ist mit allen Vorzügen und Schwächen, die dazu gehören.

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